Sapere aude (Horaz)- Wage es vernünftig zu sein.

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ( Kant)

"Die Kunst ist frei, und der Betrachter ist es ebenso. Er darf Ich sagen und dieses Ich gegen alle Künstler, Händler, Kritiker behaupten. Er muss sich nicht von anderen erzählen lassen, was er sehen soll. "[1]

Es klingt sicherlich etwas vermessen, den Begriff "Sapere aude" auf Teile des Kunstbetriebs und auf Kunstwerke selbst anzuwenden, da sich Kunst zum großen Teil der Vernunft entzieht. Es gibt allerdings nicht wenige Erscheinungen in diesem Sektor, in denen einige Skepsis der Vernunft aufgrund offensichtlicher Überspannheiten durchaus angezeigt ist. Der "Sinn" dieses Abschnitts ist es nicht, bestimmte Erscheinungen anzuprangern, sondern eine Anregung zum skeptischen Hinterfragen des teilweise kritiklos Hingenommenen aus dem Bereich der Kunst zu geben. Wieso ? Wir sind im Alltag so häufig den Manipulationsversuchen bestimmter Interessengruppen ausgesetzt, die uns zu ihren Zwecken auszunutzen beabsichtigen. Sofern wir unser "eigenes Leben" leben wollen und daran interessiert sind, unsere originär eigenen Wünsche und Interessen festzustellen, gilt es diese teils durchaus subtilen Beeinflussungsversuche zu durchschauen. Ein sehr gut geeignetes Trainingsumfeld ist nach unserer Auffassung der bereits oben erwähnte Kunstbetrieb- wie sollte es auch anders sein, da die "Kunst" ein sehr charakteristischer und integraler Bereich der Gesellschaft ist- ebenso wie der Finanzmarkt, der mit dem Kunstbetrieb eng verwoben ist. Ein Trainingsfeld für das kritische Infragestellen von "Gegebenheiten" im Bereich der Kunst kann auch als Muster für die gebotene Skepsis im Bereich der guten Ratschläge und Modelle für eine "gelingende" Gestaltung eines erfüllenden Lebens gelten.

Unsere Bemerkungen und die Anregung zum "Hinterfragen" sind hier als ergebnisoffen zu verstehen. Eine besondere Schwierigkeit besteht darin- auch im Dialog und Diskurs mit Anderen- dass die Sprache nur Teilaspekte der bildenden Kunst adaequat ausdrücken kann und nicht weniges, was formuliert wird, sich letztlich auf Gefühlen gründet: Vom "Nachplappern" irgendwelcher, irgendwo aufgefangener Phrasen einmal abgesehen. Der Mensch ist eben kein rationales Wesen, sondern benutzt nicht selten seinen Verstand dazu, seine Gefühle- auch unbewusst- zu rationalisieren und in glänzender, "überzeugender" Form zu formulieren. Es gibt die Vermutung, dass die "Rationalisierung" von Gefühlen auch für nicht wenige Entscheidungen im Berufs, aber auch im ganz normalen Alltag, gültig ist.

So manches im Gespräch über ein Kunstwerk mitgeteilte Urteil lässt sich leicht auf Glaubwürdigkeit jenseits eines reinen Gefühlsausdrucks einordnen, wenn man den Gesprächspartner bittet, sein Urteil, seine Auffassung, mit eigenen Worten zu begründen. Zwar werden sich verbal nur einige wenige Aspekte des Kunstwerks erfassen lassen- wenn allerdings auch diese wenigen Aspekte grundsätzlich nicht plausibel nachvollziehbar erläutert werden, ist wohl eine Skepsis bezüglich eines eigenständigen Urteils des "Kunstliebhabers" angesagt.

Zitat:
"Mit "Habe Mut, dich deines eigenenVerstandes zu bedienen!" übersetzte er (Anmerkung: gemeint ist Kant) das Wort des Horaz und kürte dessen Apell zum "Wahlspruch der Aufklärung". Zum Motto einer ganzen Epoche, die tatsächlich den Mut aufgebracht hatte, eigenständig zu denken; die sich nicht mehr damit zufrieden gab, von kirchlichen oder politischen Autoritäten gesagt zu bekommen, was gut und böse, wahr und falsch ist. "Wage zu denken", das war und ist ein Appell gegen jede Art von Konformismus und Opportunismus- eine Aufforderung, nicht immer das nachzubeten, was Prominente und Experten vorbeten; nicht anderen nach dem Munde zu reden, nicht die Fahne in den gerade herrschenden Wind zu hängen. "Wage zu denken", das heißt, riskieren, mal gegen den Strich zu denken, auch das denken, was auf den ersten Blick unmöglich scheint; die Einsamkeit ertragen, wenn man mit seiner Einsicht allein steht, und gängige Meinungen hinterfragen- vor allem übrigens... die eigenen." [2]

Nicht nur die Analogie zwischen der Kunst und der Gestaltung des eigenen Lebens- worauf wir an anderer Stelle hingewiesen haben- kann uns Anregungen geben, dieses offener, vorurteilsfreier, phantasievoller, abwechslungsreicher und erfüllender zu gestalten.

Auch die Interpretation des eigenen Lebens als Experiment kann uns im Zusammenhang mit dem "Sapere Aude" zu einer freieren, mutigeren und "kreativeren" Gestaltung des eigenen Lebens verhelfen.

Zitat:
" Immer wenn im Physikunterricht ein Experiment auf dem Lehrplan stand, wurde es spannend. Dann passte man ausnahmsweise auf, weil es ja sein konnte, dass die ganze Sache schiefgeht und irgendetwas unvorhergesehenes geschieht. Das war dann zwar schlecht für den Lehrer, aber unterhaltsam für uns Schüler- die auf diese Weise unterm Strich sogar mehr lernten, als wenn der Versuch geglückt wäre. Darin liegt eben der Reiz eines Experimentes: Man macht sich seine Gedanken, sichert sich nach allen Seiten ab, sorgt dafür, dass niemand zu Schaden kommen kann. Und dann legt man los, ohne genau zu wissen, was am Ende herauskommt. Sicher ist nur, dass man dabei etwas gewinnt: Eine Erkenntnis, eine Einsicht, eine Erfahrung. So gesehen, ist es gar nicht schlimm, wenn ein Experiment anders ausgeht, als man gedacht hat. Und deshalb gibt es keinen Grund, sich vor einem Experiment zu fürchten. Hat man sich das klargemacht, dann ist es sicherlich eine verlockende Idee, das eigene Leben als Experiment zu deuten: weil uns das von dem Zwang befreit, alles immer richtig machen zu müssen. Weil wir dann nicht mehr ängstlich darauf bedacht sein müssen , bloß keine Fehler zu begehen. Und weil wir dann unserer Kreativität freien Lauf lassen und mutig etwas Neues erproben können. Ganz nach dem Motto: Wer wagt gewinnt. Denn tatsächlich gibt es nur einen Fehler, den wir begehen könnten: Nichts wagen, keine Experimente, kein Risiko eingehen." [3]

Es mag zwar für einige Leser durchaus eine verlockende Idee sein "das eigene Leben als Experiment zu deuten"- wir persönlich halten dies allerdings für nicht unbedenklich. Experimente im Physikunterricht haben die Eigenschaft, dass sie bei "Nichtgelingen" im allgemeinen recht leicht wiederholt werden können. Experimente im Leben haben aber häufig Folgen- auch irreversible - und weitreichende Nebenwirkungen, die eine Wiederholung unter vergleichbaren Bedingungen verhindern. Das Leben erscheint uns zu kostbar, zu einzigartig, um es allein als Experiment zu deuten. Nur allzu leicht kann man dann sich in Situationen manövrieren, die man anschließend lieber rückgängig machen könnte- dabei kann der Aufwand aber unverhältnismäßig groß sein oder gar völlig nutzlos. Insbesondere wenn der potentielle Schaden durch ein missglücktes Experimente sehr groß sein kann, empfiehlt es sich wohl, ein solches Experiment mit Bedacht zu planen und vorher in der Phantasie durchzuspielen. Wir werden weiter unten betrachten, welche Bedeutung wir dabei der Kunst zukommen lassen können.

Auf die nötige Vorsicht bei Experimenten und die Gefahr einer Selbstüberschätzung und der nicht seltenen Überschätzung der Erfolgswahrscheinlichkeit bei einer Unternehmung weist auch Rolf Dobelli [4] hin:

"THE SURVIVORSHIP BIAS

Warum Sie Friedhöfe besuchen sollten

... "Survivorship Bias (deutsch etwa: Überlebensirrtum) bedeutet: Weil Erfolge größere Sichtbarkeit im Alltag erzeugen als Misserfolge, überschätzen Sie systematisch die Aussage auf Erfolg. Als Außenstehende erlegen Sie einer Illusion. Sie verkennen, wie verschwindend gering die Erfolgswahrscheinlichkeit ist. Hinter jedem erfolgreichen Schriftsteller verbergen sich 100 andere, deren Bücher sich nicht verkaufen. Und hinter jedem dieser wiederum 100, die keinen Verlag gefunden haben. Und hinter jedem dieser wiederum Hunderte mit einem angefangenen Manuskript in der Schublade.Wir aber hören nur von den Erfolgreichen und verkennen, wie unwahrscheinlich schriftstellerischer Erfolg ist. Dasselbe gilt für Fotografen, Unternehmer, Künstler, Sportler, Architekten, Nobelpreisträger, Fernsehmoderatoren und Schönheitsköniguinnen. ...

Survivorship Bias bedeutet: Sie überschätzen systematisch die Erfolgswahrscheinlichkeit. Zur Gegensteuerung: Besuchen Sie möglichst oft die Grabstätten der einst vielversprechenden Projekte, Investments und Karrieren. Ein trauriger Spaziergang, aber ein gesunder."

Es gibt keine Tatsachen, es gibt nur Deutungen! Das Leben als Kunstwerk oder als Experiment- besser als eine Vielzahl von aufeinander abgestimmten Experimenten- aufzufassen is gleichermaßen möglich- beides sind spezielle Deutungen aufgrund bestimmter Analogien, die aber nur bedingt tragfähig sind.

Das Interessante an Analogien ist der Umstand, dass man möglicherweise zu zusätzlichen Erkenntnissen kommt, indem man versucht, Ähnlichkeiten zwischen den betrachteten, zunächst getrennten, Bereichen festzustellen und überprüft, inwieweit sich diese überdeckenden Teilbereiche in ihren Eigenschaften entsprechen und die gewonnenen Erkenntnisse auf den jeweils anderen Bereich übertragen lassen.

Es gibt nach unserer Auffassung gibt es eine Analogie, die die beiden vorher betrachteten Analogien einschließt. Wir räumen allerdings freimütig ein, dass es sich dabei um eine sehr subjektive Auffassung handelt, die zudem von einer früheren beruflichen Tätigkeit sicherlich beeinflusst worden ist. Wir deuten sie deshalb hier nur kurz an: Die Gestaltung des Lebens besitzt nach eine Analogie zu einem "Entwicklungsprojekt".
Was könnte das Ziel dies Entwicklungsprojektes sein? Ein mögliches Ziel: "Werde der du bist". Dies bedeutet sich als Ziel zu setzen, der zu werden, wie es dem Selbst im Rahmen der eigenen Fähigkeiten, Möglichkeiten und allgemein vorgegebenen Randbedingungen entspricht. Dieses allgemeine Ziel erscheint uns am ehesten geeignet zu sein, ein erfüllendes und ein als sinnvoll empfundenes Leben zu verwirklichen. Inhaltlich ist dadurch die Gestaltungsfreiheit des sich Entwickelnden praktisch noch nicht eingeschränkt.

Am Anfang eines sinnvollen Vorgehens steht dabei die Notwendigkeit, sich zunächst möglichst Klarheit über seine Ziele, Wünsche und Werte zu verschaffen. Diese können sich im weiteren Verlauf jedoch durchaus ändern- wie auch die Fähigkeiten, Möglichkeiten und Randbedingungen. Welche Wege sind geeignet, dieses Ziel oder diese Ziele zu erreichen? ... Dabei wird man auch den Weg durch Versuch und Irrtum, also durch Experimente, Schritt für Schritt durchschreiten- und sich von Zeit zu Zeit vergewissern, ob man seinen Zielen näher gekommen ist, möglicherweise auch auf Umwegen. In der Verfolgung des Weges wird es stets wichtig sein, zu einer Balance zwischen Vernunft und Gefühl zu kommen.

"Viel zu kopflastig" wird sich wohl so mancher Leser sagen. Die Rolle des Alternativen abwägenden Verstandes ist nach unserer Auffassung jedoch nicht zu unterschätzen. Die relativ unreflektierte Entscheidung birgt so manche typische Gefahr. Nicht nur aus der Psychologie sind einige typische Entscheidungsfallen, die zu sehr unangenehmen Folgen führen können, bekannt:

1. Kurzfristige Vorteile werden stärker bewertet als langfristige Nachteile (Raucher: kurzfristiger Vorteil eines unmittelbaren Genusses gegenüber Krebsgefahr in der Zukunft; Marshmellow- Experiment bei Kindern: Entweder einen Marshmellow jezt oder bei Nichtessen dafür zwei Marshmellows in 5 Minuten; Aus der Entscheidung sind Prognosen für die weitere Entwicklung möglich)

2. Allgemein: Beachtung der kurzfristigen, mittelfristigen und langfristigen Auswirkungen von Entscheidungen

3. Nichtbeachtung von Nebenwirkungen einer Entscheidung, der speziellen Randbedingungen, von positiven oder negativen Rückkopplungseffekten. Die damit verbundenen Effekte werden im "vernetzten Denken" näher betrachtet (F. Vester, D. Dörner)

Die Experimente sind abzustimmen auf die Teilziele, auch sind die möglichen Nebenwirkungen und die vorhandenen Randbedingungen zu beachten. Der Verstand allein wird allerdings zum Planen, der Durchführung, der Auswertung der Experimente und den daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen nicht ausreichen. So wird zum Beispiel auch das sich Hineinversetzen in die Position des Anderen, ob Einzelperson oder Gruppe, von entscheidender Bedeutung für das Erreichen eines "Zieles" und eines befriedigenden, konstruktiven Miteinanders im zwischenmenschlichen Kontakt sein.. Dieses Ziel kann in der Wertschätzung durch einen Anderen bestehen. Bei "Experimenten" im zwischenmenschlichen Bereich ist bekanntlich die emotionale Intelligenz und die Empathie von entscheidender Bedeutung. Auch die realistische Einschätzung der eigenen Belastbarkeit, des Verhaltens unter Stress, der Hartnäckigkeit und der Fähigkeit die auch zu erwartenden Rückschläge zu "verdauen"- der Resilenz, sind entscheidend für die zumutbaren Experimente und deren "Schwierigkeitsgrad".

Welche Rolle spielt die Kunst, wenn wir die Gestaltung des eigenen Lebens als ähnlich zu einem Entwicklungsprojekt sehen? Sie kann als Teil eines "gefahrlosen" Experimentierraumes mit größtmöglicher Freiheit für Lebensentwürfe innerhalb des Gesamtexperiments "Leben" gedeutet werden- aus dem man gleichermaßen Genuss und Erkenntnis in das reale Leben übertragen kann. Dabei ist der Freiraum der Kunst fast so groß wie die Freiheit der Gedanken. Dieser Experimentierraum wird sich insbesondere dann anbieten, wenn man sich mit grundsätzlichen Fragen, Problemen und Einstellungen dazu befasst und Gefühl, Verstand und Handeln aufeinander abstimmen möchte. Das Werk wird dann letztlich die materielle, ästhetisch dem behandelten Thema angemessene Oberfläche sein. Für den Gestalter des Werks wird dann der Weg zum fertigen Werk eine ganz wichtiger Bestandteil sein. Der Betrachter seinerseits kann dann ausgehend vom Werk durch seine Assoziationen und Interpretationen der Darstellung des Werkes seine spezielle, ganz individuelle Bedeutung geben.

Im Bereich der Softwareentwicklung oder bei Austesten von Programmen, die auch schädliche Auswirkungen auf das Betriebssoftware oder die Gesamt-Software haben können, kennt man das Konzept der "virtual box". Dies ist ein Bereich, in dem man zunächst alles anstellen kann, was einem in den Sinn kommt, ohne schädliche Auswirkungen auf das Gesamtsystem befürchten zu müssen- man kann auch schreckliche "virtuelle" Katastrophen provozieren oder völlig über die Stränge schlagen, ganz nach Lust und Laune. Auch das relativ gefahrlose Überschreiten von Grenzen, Tabus und gesellschaftlich eingeforderter politischer Korrektheit, kann durchaus lustvoll für den Gestalter sein, sogar wenn der Betrachter selbst aufgrund von Mehrdeutigkeiten der Darstellung eine solche Grenzüberschreitung gar nicht wahrnimmt oder sie sich eingestehen will- vielleicht findet sie nur in seiner eigenen Phantasie statt? Solche vergleichbare Freiheiten wird er sich im "realen" beruflichen und privaten Alltagsgeschäft nicht herausnehmen dürfen, ohne negative Folgen zu befürchten. Die Kunst befindet sich somit in einem Bereich zwischen "Die Gedanken sind frei, niemand kann sie verbieten" und der gesellschaftlich reglementierten Realität.

Nach dem Austesten und einer Wertung der gewonnenen Erkenntnisse kann dann gegebenfalls eine Übertragung vom virtuellen Bereich in den realen Bereich erfolgen. Dem "lustvollen" Experimentieren mit neuen Ideen, Ansätzen , ästhetischen Formen, Alternativen in Realisierung sind in dem virtuellen Bereich im Prinzip also kaum Grenzen gesetzt. Die Virtual Box ist zwar vom Bereich des unmittelbaren Eingriffs in die reale Welt getrennt, die Wand zwischen den beiden Bereichen ist jedoch in beiden Richtungen nicht undurchlässig.

In dieser "virtuellen Box", in der sich die Kunst befindet, hat noch ein anderer Begriff eine entscheidende Bedeutung : das "Spiel":

"Es ist der "Überschuss an Triebunbefriedigung", der das Neugierverhalten in Gang hält, das allem Spiel zugrundeliegt. In den gestaltenden Künstlern erhält sich diese Unruhe, die beim "angepassten" Mitglied der Gesellschaft durch die dieser Sozialordnung spezifischen Arrangements aufgezehrt oder institutionell kanalisiert wird. Der Künstler ist ein permanenter Spieler".
(Mitscherlich, Alexander; zitiert aus "Das große Krüger Zitatenbuch", Krüger Verlag, 1977, ISBN 3-8105-1004-1)

"Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." (Schiller)

"Solange der Mensch spielt, ist er frei" (Alexander Sieburg)

Der Leser hat hier sicherlich seine eigene Auffassung zum "Spiel". Unsere eigene Haltung zum Spiel ist sehr zwiespältig; es kommt ganz auf das Spiel an. Abgesehen von unserem Reliefschaffen, dass eben auch Eigenschaften eines Spiels hat, haben wir, außerhalb unserer Kindheit, nur ein Spiel gespielt: Ein Simulationsspiel namens Ecopolicy (Frederic Vester), in dem man das vernetzte Denken in komplexen Situationen trainiert- was nicht nur im Beruf, sondern auch im privaten Alltagsleben von großem Nutzen und Reiz sein kann. Mit diesem Spiel können die Auswirkungen von Nebenwirkungen, verstärkenden und abschwächenden Rückkopplungseffekten, Zeitverzögerungen in der Reaktion und von indirekten Beeinflussungsmöglichkeiten auf den angestrebten Erfolg von Entscheidungen bei komplexen Systemen und undurchsichtigen Entscheidungsgrundlagen studiert werden. Wir haben übrigens dieses Spiel auch in Laborübungen von Studenten spielen lassen- mit einem durchaus feststellbaren Lernerfolg. Dabei wurde auch die Nachdenklichkeit und die Vorsicht bei Entscheidungen für komplexe Systemen gestärkt und einige typische Fehler von Entscheidungen behandelt.

Spiele bieten u.U. auch direkt den Einstieg in eine virtuelle Welt- in ein "Second Life"- die man sich aus recht realistischen, individuell gestalteten Figuren in einer interaktiv gestaltetbaren Welt des Internets zusammenbauen kann. Dabei können Geschäfte getätigt werden, private Kontakte aufgebaut und sogar Handlungen vorgenommen werden, die im realen Leben sanktioniert würden. Man kann nur hoffen, dass zumindest einige Handlungen aus der virtuellen Welt dieser Spiele nach dem Einüben- durch Wegtrainieren von Hemmungen- nicht in die reale Welt übertragen werden.

Die Spielsucht vieler Jugendlicher letztlich auf das Neugierverhalten und schließlich auf einen "Überschuss an Triebunbefriedigung" (Mitscherlich) zurückzuführen, erscheint uns in dieser Ausschließlichkeit formuliert, allerdings nicht überzeugend.

Wir fassen kurz zusammen: Sofern man das menschliche Leben als eine Art von Entwicklungsprojekt ansieht, etwa als selbstgestellteAufgabe "Werde der du bist", dann kann es sinnvoll sein, ganz bewusst den Wert von Experimenten in diesem Projekt zu erkennen und solche Experimente- mit nicht zu großem Risiko im Verhältnis zum "Nutzen"- zu wagen. Ein Experiment kann auch misslingen- auch ohne eigene Schuld. Wenn man sich dessen bewusst ist, verhält man sich gelassener und unverkrampfter, was häufig die Erfolgswahrscheinlichkeit erhöht.

Eine wichtige Bedeutung innerhalb dieses Entwicklungsprojektes (dieses Konzeptes, Modells) erscheint uns die Existenz eines von der realen Welt nicht völlig getrennten "virtuellen" Raumes zu sein: In diesem Raum der größten Gestaltungsfreiheit können wir unsere Phantasie, unsere Träume, unsere Ängste, Wünsche, Lüste,... bedingungslos ausleben, Experimente des realen Raumes planen gedanklich und gefühlsmäßig durchspielen, sowie zu Erkenntnissen über uns selbst und unser Verhältnis zur realen Welt gelangen. In diesen virtuellen Raum befindet sich auch die Kunst. Dort können wir uns selbst aus einer gewissen Distanz betrachten, was uns manches unvoreingenommener erkennen lässt- andererseits können die dort gewonnen Erkenntnisse ggf. in die reale Welt übertragen werden und zu einer Veränderung unseres Verhaltens in dieser führen- eben auch im Sinne des "Werde der du bist". Dieser Raum kann auch direkt zum Gelingen unseres Lebens beitragen- durch das lustvolle Erben von flow, von ästhetischen Genüssen und von spielerischen Aktivitäten.

Dieser virtuelle Raum entspricht in Teilen der "zweiten Welt" des Philosophen Robert Pfaller:
"Die erste Welt ist die unseres wirklichen Lebens mit allen Mühen, Frustrationen und Kompromissen. Die zweite Welt ist die der Träume, Wünsche und Illusionen. ... Weil wir keine Phantasie mehr haben, aus der wir erleichtert ins Leben flüchten können, gerät uns das Leben selbst zu einem auswegslosen Albtraum."[5]

In beiden Räumen, der ersten und der zweiten Welt, ist noch eine andere Erscheinung von Bedeutung, die das Glückserleben und das Sinnempfinden eines Menschen mitbestimmt: der Flow. Über den Flow- eine als lustvoll empfundene Vertiefung und ein völliges Aufgehen in einer Tätigkeit, wobei die Umgebung nicht mehr beachtet wird- sind in dieser Webseite an anderer Stelle einige Hinweise gegeben worden (Mihaly Csikszentmihalyi).

In dem "virtuellen Raum", in dem wir uns "frei bewegen" können, ist noch ein Weiteres zu bedenken: Es besteht dort die Gefahr, dass wir nicht selten dazu neigen, "unseren eigenen Gedanken, Gefühlen und Plänen vorbehaltlos vertrauen, was eigentlich keine so gute Idee ist.[6]
Wir führen diesen Hinweis ein, weil wir mit unseren Werken auch gerade durch ihr Interpretationsangebot dem Betrachter -und uns selbst bei der Gestaltung der Werke- die Gelegenheit geben wollen, erwas über sein eigenes Wesen zu erfahren.

Zitat [6]:
"Die gefühlte Authentizität, mit der uns unsere eigenen Gedanken begegnen, verhindert jedes Zweifeln daran, ob das alles so seine Richtigkeit hat. Sigmund Freud war der Erste, dem der Gedanke kam, dass unterhalb der Bewusstseinsschwelle womöglich Kräfte walten, die viele Eindrücke sortieren und ordnen, manchmal aber auch schon Entscheidungen festlegen, bevor der Mensch dies bewusst tut.
Während das Unbewusste bei ihm noch eine wild wuchernde und bedrohliche Kraft war, hat die Forschung der vergangenen Jahre empirisch nachweisen können, dass es unbewusste Prozesse nicht nur tatsächlich gibt, sondern dass sie auch äußerst sinnvoll sind. ...

"Der moderne Blick auf das Unbewusste ist, dass manche Entscheidungen, Gefühle oder Motive aus Gründen der Effizienz nicht im Bewusstsein erscheinen", schreibt erscheinen", schreibt Timothy Wilson in seinem Buch "Strangers to Ourselves: Discovering the Adaptive Unconscius". Die unbewussten Prozesse, so Wilson, könne man sich wie viele kleine Assistenten vorstellen, die im Hinterzimmer alle gedanken, Gefühle und Entscheidungen vorbereiten- damit das Bewusst sein sich nicht mit jeder Banalität beschäftigen muss. ...

Rechtfertigungen und ähnliche Prozesse, die Gefühle regulieren, also dazu führen, sich besser zu fühlen, werden von diesen Assistenten besonders gern angestoßen, wenn sie einmal erfolgreich waren. ... Wir können also getrost davon ausgehen, dass die meisten Gedanken und Gefühle, die bei uns im Bewusst sein ankommen, bereits geschönt und korrigiert sind. in einem selbstwertdienlichem Sinne.
...
"Wer trotzdem wissen will, in welchen Momenten er sich besser nicht allzu sehr auf sich selbst verlassen sollte, kann die eintrudelnden Gedanken und Gefühle erst einmal stehen lassen, anstatt sofort auf sie zu reagieren,... .... "Der Trick ist, die Gefühle an die Oberfläche tauchen zu lassen und sie dann durch den Dunst eigener Erwartungen und Theorien genau anzusehen."
...
"Ohnehin, ..., sei es wohl eine gute Idee, andere zu fragen, wenn man mehr über sich selbst lernen wolle. Denn die wichtigsten Motive und Bedürfnisse zeigen sich immer- allerdings in den Taten mehr als in Worten. Und da hätten andere oft den besseren Überblick.
"

Abschließend wollen wir noch ein Beispiel bringen, dass einerseits zum Motto "Sapere Aude" dieses Abschnitts, andererseits auch zum Artikel von Fanny Jimenez [6] passt: In der Supermann Falle- Der Mensch glaubt fest an sich und seine Fähigkeiten."

Wir zitieren aus der BILD-Zeitung vom 27. Januar 2014, Bundesausgabe, Seite 7. Dort wird auf die Werkschau eines "Malerfürsten" verwiesen: ... "Ein Malerfürst hält Hof.
...Er liebt die Provokation. "Als Künstler muss ich die Welt erklären", so XXX zu BILD. "Begabung nützt nichts, da muss ein bisschen mehr kommen, nennen Sie es göttlichen Funken, ich nenne es lieber Genie- das ist provokanter."

XXX = Stellvertreter für den Namen des "Malerfürsten"

Der Leser möge sich überlegen, wie diese Bemerkung des "Malerfürsten" wohl zu interpretieren ist- vielleicht hält er (der Leser) noch ein anderes Wort treffender als "provokanter"?

Wir können hier anhand dieses Zitats allein nur die Bemerkung des "Malerfürsten" deuten, nicht aber feststellen, ob und wie weit er in die Supermann-Falle selbst geraten ist. Dazu müsste man noch weitere Bermerkungen und sein gesellschaftliches Auftreten insgesamt heranziehen- schließlich könnte es sich theoretisch durchaus um eine selbstironische Aussage des "Malerfürsten" handeln.

An anderer Stelle haben wir bereits auf die Ähnlichkeit und die enge Verflochtenheit des "Kunstbetriebs" und der "Finanzwelt" hingewiesen. Auch die Finanzwelt wartet mit Persönlichkeiten auf, die eine ausgezeichnete Nähe zum Göttlichen aufweisen:

AUF DIE FRAGE EINES BROKERS, WER ER DENN SEI, ANTWORTETE DER AMERIKANER EDSON MITCHELL, DER ENDE DER NEUNZIGER JAHRE ( DES 20. JAHRHUNDERTS) DAS INVESTMENTBANKING DER DEUTSCHEN BANK IN DIE TOP-LIGA DER FINANZINDUSTRIE EINFÜHRTE: "ICH BIN GOTT". (PANTALEON FASSBENDER: PRIMUS INTER PARES, 25.3.2013 (INTERNET) UND NILS OLE OERMANN: TOD EINES INVESTMENTBANKERS- EINE SITTENGESCHICHTE DER FINANZBRANCHE, HERDER, ISBN-10: 345130676X).
EDSON MITCHELL STARB IM JAHR 2000 MIT 47 JAHREN BEI EINEM FLUGZEUGABSTURZ. GOTT IST ALSO TOT. NIETZSCHES BEHAUPTUNG WURDE IM NACHHINEIN SCHLIEßLICH DOCH NOCH BESTÄTIGT.

GOLDMAN-SACHS-CHEF LLOYD BLANKFEIN MEINTE EINST ÜBER DIE INVESTMENTBANKER, DASS SIE "GOTTES WERK " VERRICHTEN.
(BÖRSE INTERNATIONAL, dpa-AFX, 30.12.2012)

 

Wir sind hier auf die Einbindung der Kunst in den übergeordneten Zusammenhang "Gestaltung eines erfüllten Lebens" eingegangen, damit der Betrachter und Leser anhand dieser sicherlich korrektur- und ergänzungsbedürftigen Darstellung der "zwei Welten" einige Anregungen erhält, diese Gedankengänge für sich selbst zu modifizieren, anzupassen und einen Teil (?) davon zu verwerfen, um einerseits unser Werk besser beurteilen zu können und andererseits seine Position hinsichtlich der Kunst und seiner eigenen Lebensgestaltung zu überdenken. Auch die Einteilung in die erste und die zweite Welt kann natürlich "psychoanalytisch hinterfragt" und jeweils neueren Erkenntnissen gemäß angepasst und erweitert werden- für unsere Zwecke jedoch ist diese grobe Einteilung jedoch zweckmäßig und ausreichend.

 

Literatur:

[1] Hanno Rauterberg: Und das ist Kunst? Eine Qualitätsprüfung, Seite 197, S.Fischer Verlag, 2007, ISBN 978-3-10-062810-7

[2] ZEIT WERT GEBEN - Ein Inspirationsbuch mit 40 guten Gedanken, Impuls Mut, Seite 106, Autor: Christoph Quarch, ISBN 978-3-00-043042-8

[3] ZEIT WERT GEBEN- Ein Inspirationsbuch mit 40 guten Gedanken, Impuls Experiment, Seite 142, 2013, Autor: Christoph Quarch,
ISBN 978-3-00-043042-8

[4] Rolf Dobelli: Die Kunst des klaren Denkens, Hanser, Seite 5, 2011, ISBN 978-3-446-42682-5

[5]Robert Pfaller: Zweite Welten und andere Lebenselixiere, Seite 21, S. Fischer, 2012, ISBN 978-3-10-059034-3

[6] Fanny Jimenez: In der Supermann Falle- Der Mensch glaubt fest an sich und seine Fähigkeiten. Dabei ist erwiesen, dass er seinem Selbstbild

nicht trauen kann, WELT AM SONNTAG Nr.4, 26.Januar 2014, Wissen, Seite 52

 

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