Interpretationsoffene Malerei : Ein Beispiel - Werke der Künstlerin Marina Lukjanowa

Interpretationsoffene Werke sind im Bereich der Malerei verbreiteter als im Bereich der Medaillen- und der Reliefkunst. Zwischen der Darstellung einer eindeutigen, "geschlossenen" Situation, die keinen Raum für eine Interpretation freilässt und einer völlig beliebigen Darstellung zu irgend einem Thema, die alles bedeuten kann und damit gleichzeitig dem Betrachter des Werkes letztlich keine Anregung in einem bestimmten Themengebiet liefert, befindet sich jedoch ein weiter Übergangsbereich.

Wir stellen dem Leser als ein Beispiel für interpretationsoffene Bilder einige Werke der Malerin Marina Lukjanowa vor, die "verschlüsselt" spezielle Lebenssituationen und mögliche (ihre?) Empfindungen dazu symbolisch dargestellt hat. Die Bilder betreffen gleiche oder ähnliche Lebenssituationen, in die durchaus nicht wenige Menschen geraten. Damit kann der Betrachter, sofern er sich darauf überhaupt einlässt und dafür empfänglich ist, eine mehr oder weniger enge Beziehung durch Assoziation und Interpretation des Dargestellten zwischen sich, seinem eigenen Leben und dem Bild herstellen. Seine spezielle Deutung wird dabei von seiner momentanen Lebenssituation, der Lebenserfahrung und dem Lebensalter abhängig sein. Dadurch besteht die Möglichkeit für den Betrachter, dass er etwas über sich selbst erfährt und dass das Werk für ihn über eine längere Zeit interessant bleibt, weil es ihm die Gelegenheit bietet, immer wieder neue Gesichtspunkte und Ansätze für eine andere Deutung zu entdecken.

Wir bedanken uns recht herzlich für die freundliche Erlaubnis der russischen Künstlerin Marina Lukjanowa die folgenden Abbildungen ihrer Werke zeigen zu dürfen. Frau Lukjanowa stellt ihre Werke in ihrer eigenen Galerie aus, die sich in Bad Harzburg befindet (..., 2017, ...). Sie besitzt auch eine eigene Webseite, in der sie ihre Werke vorstellt.

 

     

 

Interpretationsoffene Werke können also dem Betrachter ein Angebot machen, durch Assoziation und Interpretation eine Beziehung zwischen dem Werk und seinem eigenen Leben und speziellen Lebenssituationen herzustellen. Werke, die lediglich die Gefühle des Betrachters ansprechen und ihn durch Assoziationen in eine bestimmte Stimmung versetzen, sind nach unserer Wahrnehmung verbreiteter als die Werke, die eine nichttriviale Interpretation anregen. Wir finden es bei einem Kunstwerk besonders "reizvoll", wenn über das Werk ein gedanklicher Austausch mit einem anderen Betrachter möglich ist, in dem neben dem Gefühl auch der Verstand herangezogen werden kann- und in dem die Gesprächspartner dadurch etwas über sich selbst und den Anderen erfahren können. Wir sind uns allerdings bewusst, dass der Wunsch nach der Art und dem Umfang des Gedankenaustausches zwischen den Betrachtern- jenseits eines "Das gefällt mir" - "Das gefällt mir nicht", "Das ist ja etwas "ganz Neues"- "Alles schon mal da gewesen","Das ist wirklich gut getroffen" - "Das erkennt man ja garnicht wieder" ( und Ähnlichem) und jenseits rein formaler oder beschreibender Kriterien, äußerst unterschiedlich sein kann.

Auch reine Portraits können natürlich einer Interpretation gegenüber offen sein: Welche charakterlichen Eigenschaften hat der/die Dargestellte und wie gut sind diese Eigenschaften wiedergegeben? - dies mag für viele Personen von großem Interesse sein. Wie weit dadurch eine enge Beziehung zwischen dem Betrachter und dem Werk hergestellt werden kann, wird natürlich auch hier primär vom Betrachter selbst abhängig sein.

Durch die angestrebte Herstellung einer Beziehung zwischen einem Werk und den speziellen Lebenssituationen eines Betrachters, damit auch letztlich zu uns selbst, gewinnt der Gestaltungsprozess einen besonderen Sinn und eine entsprechende Bedeutung für uns. Nicht selten sind uns während des "Schaffensprozesses" eigener Werke zusätzliche, nichttriviale Interpretationsmöglichkriten bewusst geworden, was für uns sehr reizvoll durch die zusätzlich gewonnenen Erkenntnisse war.

ZITAT [1]:

"... was ist eigentlich gemeint mit "Sinn"? Sinn, das ist Zusammenhang. Die Arbeit des Deutens und Interpretierens knüpft Zusammenhänge, mögen sie von selbst schon bestehen oder nicht. Die Hermeneutik der Lebenskunst besteht darin, mithilfe von Interpretationen denjenigen Zusammenhang herzustellen, der in der Lage ist, dem Leben Sinn zu geben- einen Sinn, der der Gesamtheit oder dem Einzelereignis des Lebens nicht etwa nur abzulesen ist, sondern hineingelegt werden muss, um herausgelesen werden zu können. Die Interpretation , dieses "Dazwischentreten" , knüpft Beziehungen zwischen den unzusammenhängenden, auseinander strebenden Bestandteilen und Erfahrungen des Lebens, zeigt Zusammenhänge auf und erzeugt auf diese Weise "Sinn". Das ist ein Vorgang, für den man sich eines Hilfsmittels bedienen kann. Indem man nämlich einen Text zur Hand nimmt, ein Buch, einen Aufsatz, den man zu lesen und zu interpretieren sucht. Während man den Text interpretiert, interpretiert man in Wahrheit sich selbst und das eigene Leben; die subjektive Fragestellung spiegelt sich im objektiven Material: Das macht die Unverzichtbarkeit des Umgangs mit Texten für die Lebensführung aus.

Mithilfe von Interpretationen werden Zusammenhänge geklärt und Sinngefüge von Selbst und Welt hergestellt; "im Leben Sinn zu finden", meint nichts anderes als dies: Zusammenhänge ausfindig zu machen und sich in sie einzufügen; "dem Leben Sinn zu geben" aber heißt: diese Zusammenhänge selbst zu gestalten.".

Für uns stellt sich beim Lesen vorstehenden Zitates die Frage: Gilt das, was der Autor über Texte sagt, auch für Werke der Bildenden Kunst- für Bilder und für Reliefs? Und sofern die Antwort hierauf "ja" ist- wie weit, wie vergleichbar gilt diese Wirkung der Interpretation auf den dafür aufgeschlossenen Rezipienten?

Wenn ein Betrachter ein Werk, außer für seine ästhetische Wirkung, insbesondere auch dafür schätzt, dass es ihn zu Fragen und subjektiven Antworten für sein eigenes Leben und sein gesellschaftliches Umfeld anregt- Was ist dann für ihn die Bedeutung und die Rolle des Kunstkritikers- in dessen Abhängigkeit vom "Zeitgeist", vom Kunstmarkt, eigenen Interessen und Subjektivitäten ?

 

[1] Wilhelm Schmid: Schönes Leben- Einführung in die Lebenskunst, Seite 183, Suhrkamp- Verlag, 2005, ISBN 3-516-06827-X

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