Auch im Bereich der Psychologie findet man zum Thema "Lebenskunst"
("reflektierte Lebenskunst") sehr bedenkenswerte Hinweise. Hierzu
verweisen wir auf einen Beitrag von Eva Tenzer: Eigensinn ist Lebenskunst (aus
PSYCHOLOGIE HEUTE compact, Ohne mich! Widerstand leisten gegen die Zumutungen
der Zeit, BELTZ, 2013, Heft 33, Seite 9):
"Eigensinn ist Lebenskunst
Ungehorsam stabilisiert die Psyche. Er ermöglicht,
den Mainstream zu verlassen, enge Grenzen ernst zu nehmen und sowohl Kompromisse
als auch Konfrontationen einzugehen ...
Denn schon das Naschen vom verbotenen Baum, sozusagen der Ur-Akt menschlichen
Ungehorsams, gab der Entwicklung einen entscheidenden Impuls- zum Schlechten,
meinen die einen und erklärten die Sache zur Erbsünde; zum Guten,
meinten anderen, nämlich zu Freiheit und selbstverantwortlichem Handeln.
Sich gegen Verbote und Normen hinwegzusetzen bringt- neben manchen Nachteilen-
ein Mehr an Erkenntnis und persönlicher Gestaltungsfreiheit. ...
Dabei weiß auch Nelting* natürlich, dass die Hürden oft hoch
sind: "Die Gefahr, zum Außenseiter zu werden, wird archaisch als
Bedrohung fürs Überleben empfunden. Neurophysiologisches Korrelat
ist hier eine stärkere Aktivität im Mandelkern des Gehirns im Sinne
einer Bedrohung. Das führt dazu, dass das eigene Beurteilungssystem ausgeschaltet
und stattdessen einfach die Gruppenmeinung oder Anordnungen übernommen
werden." Nur wer Auseinandersetzungen infolge seines Ungehorsams nicht
als Bedrohung erlebt, sei letztlich auf Dauer fähig zum Eigensinn. Das
Risiko für die Folgen dieses Überschreitens gehört dann natürlich
auch in seine eigene Verantwortung.
...
Es mag also weniger ein angeborener Mut sein, der uns zu Helden des Ungehorsams
macht, als vielmehr das bewusste Einstehen für seine Folgen. Wer sich für
sein Tun verantwortlich fühlt und ... (sein) Gewissen nicht einfach auf
andere überträgt, handelt am Ende unabhängiger- und tut damit
langfristig auch der eigenen Psyche Gutes."
* Manfred Nelting, Ärztlicher Direktor der Bonner Gezeiten-Haus-Klinik
In dem hier aufgeführten Beitrag von Eva Tenzer wird noch eine weitere Aussage von Manfred Nelting aufgeführt: "Emotionale Erlebnisse, Empfindungen, kognitive Erkenntnisse und körperliche Reaktionen sind präfrontal in der Großhirnrinde gespeichert. Für die Entwicklung und Gesundheit ist entscheidend, ob hier Flexibilität erlaubt ist. Die nämlich ermöglicht, neue Lösungen für neue Situationen und Herausforderungen zu entwickeln und innovativ zu sein, ohne den Halt zu verlieren."
Zum gleichen Themenbereich der "reflektierten
Lebenskunst", der ebenfalls in PSYCHOLOGIE HEUTE compact, Ohne mich! Widerstand
leisten gegen die Zumutungen der Zeit, BELTZ, 2013, Heft 33, behandelt wird,
gehört auch der Beitrag von Kurt Singer: Der Mut, aus der Reihe zu tanzen
(Seite 17).
Wir selbst haben dieses Thema auch in unseren Werken behandelt.
Wir zitieren:
"Der Mut, aus der Reihe zu tanzen
Zivilcourage fällt oft schwer. Wenn im entscheidenden Augenblick der Mut
zum Widerspruch fehlt, sind wir wahrscheinlich schon in jungen Jahren entmutigt
worden. Aber es gibt Möglichkeiten, den "aufrechten Gang" zu
üben und die Kunst des Widerspruchs zu üben.
...
Weshalb ist es für mich so bedeutsam, die Zustimmung der Autorität
zu erlangen? Wie kommt es, dass mein Selbstbild wankt, wenn mich ein Vorgesetzter
kritisiert? Bin ich tatsächlich weniger wert, wenn die "Autorität"
an mir etwas auszusetzen hat? Kann ich die Kritik akzeptieren oder zurückweisen-
ohne gleich mein Selbst infrage zu stellen? Sehe ich die "Autorität"
nur in den anderen und erkennte nicht auch die Autorität in mir selbst?
Welches Selbstbild möchte ich verwirklichen? Welche Werte sind für
mein Leben bedeutsam?
Zivilcourage ist keine "Technik" oder "Methode", sondern
eine Tugend. Deshalb ist es nicht einfach, sozialen Mut zu entwickeln. Immer
geht es darum, sich mit den moralischen Werten auseinanderzusetzen, die der
Einzelne verwirklichen will."
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