Individuelle Lebensgestaltung

Was ist unter "individueller Lebensgestaltung" zu verstehen? Führt nicht jeder Mensch sein individuelles Leben?

Zur Beantwortung dieser Fragen- wie weit wir unser Leben wirklich nach unseren eigenen Wünschen- oder nach den Erwartungen anderer- führen, beziehen wir uns auf
Erich Fromm:
Authentisch leben, Herder spektrum, 2006, ISBN:-13: 978-3-451-05691-8, ISBN-10: 3-451-05691-7.

Seite 8 :
"Sozialpsychologisch gesehen hat die heute um sich greifende Attraktivität inszenierter Wirklichkeit ihren Grund vor allem in dem durch das allgegenwärtige Marketing bestimmte Bedürfnis des gegenwärtigen Menschen , sich zu vermarkten, "gut drauf" zu sein, beim anderen gut ankommen zu wollen und sich gleichzeitig einer schwierig , konflikthaft, destruktiv, enttäuschend oder sonstwie unpäßlich erlebten Wirklichkeits- und Selbstwahrnehmung zu entziehen.
Von besonderer Bedeutung ist dabei die Möglichkeit, auch die eigene Wirklichkeit- das Selbst und das Selbsterleben- zu inszenieren. Die Wahrnehmung des eigenen selbst orientiert sich dann nicht mehr am eigenen So-Sein, sprich an den eigenen Bedürfnissen, Befindlichkeiten, Gefühlen und Fähigkeiten; vielmehr gilt es, die eigene Persönlichkeit und den eigenen Charakter zu inszenieren und sich eine Ich-Identität von außen anzueignen. Man zieht sich ein bestimmtes Persönlichkeitsprofil über, die Rolle des erfolgreichen, Selbstbewußten, Selbstsicheren, Einfühlsamen, rationalen, mit Charisma Ausgestatteten usw. und bringt diese möglichst perfekt zur Darstellung.

Die Identifizierung mit dem inszenierten Selbsterleben kann so weit gehen, dass für den Betreffenden wie für seine Umwelt nur noch mit Mühe erkennbar ist, wer er nun wirklich ist und was an ihm echt ist, weil er die Rolle so "authentisch" spielen kann, dass sein authentisches So-Sein völlig verschwunden ist."

Seite 15:
"Das gegenwärtige intellektuelle Klima ist von einem Relativismus in der Ethik gekennzeichnet. Im allgemeinen wird die Auffassung vertreten, Werte besäßen nur deshalb Gültigkeit, weil sie innerhalb einer bestimmten Kultur von der Gesellschaft akzeptiert werden. Die Normen des Kopfjägers erfüllen ihren Zweck bei den Kopfjägern, und das Gesetz der Nächstenliebe erfüllt seinen Zweck bei den Kulturen, die diese Norm akzeptiert haben. Die meisten Sozialwissenschaftler vertreten den Standpunkt, dass Werte und Normen keine allgemeine, objektive , universale Gültigkeit besitzen."

Seite 16:
"Der Mensch lebt nicht nur instinktiv, so wie es das Tier tut. Er ist weitgehend aus der Natur entwurzelt und steht vom Augenblick seiner Geburt an vor dem Problem, eine Frage zu beantworten, die ihm das Leben stellt: Was sollen wir aus unserem Leben machen ? Wohin gehen wir ? Welchen Sinn geben wir dem Leben ? Soweit ich sehen kann , ist dies nur eine Frage , und es gibt nur wenige Antworten darauf. Diese Antworten sind in der Geschichte der Menschheit zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten wiederholt worden."

Seite 59:
"Wir glauben, dass die Verwirklichung des Selbst nicht nur durch einen Akt des Denkens, sondern auch durch die Verwirklichung der gesamten Persönlichkeit zustande kommt, wenn der Mensch nämlich alle seine emotionalen und intellektuellen Möglichkeiten tätig zum Ausdruck kommt.XXXX Diese Möglichkeiten stecken in jedem, sie werden aber nur in dem Maße verwirklicht, als sie einen Ausdruck finden."

Seite 78:
"Wir verwenden unsere ganze Energie darauf, das zu bekommen, was wir haben wollen, und die meisten fragen nie nach der Voraussetzung dafür: Dass sie nämlich wissen, was sie wirklich wollen. Sie nehmen sich nicht die Zeit, darüber nachzudenken, ob das was sie anstreben, auch wirklich das ist, was sie selber wollen."

Seite 79:
"Was nützt mir das alles? Bin ich es denn, der das alles will ? Laufe ich nicht hinter irgendeinem Ziel her, das mich angeblich glücklich machen soll und das mir wieder aus den Händen gleitet, sobald ich es erreicht habe ? Wenn solche Fragen auftauchen, so erschrecken sie den Betreffenden, denn sie stellen die Grundlage in Frage, auf die sich die gesamte Tätigkeit eines Menschen, seine Vorstellung von dem, was er will, aufbaut. Deshalb versucht man, solche beunruhigenden Gedanken so schnell wie möglich wieder los zu werden. Man hat das Gefühl, man quäle sich mit derartigen Fragen nur, weil man müde oder deprimiert sei- und man jagt weiter Zielen nach, die man für die ureigensten hält.

Trotzdem ist das alles doch ein Hinweis darauf, dass man eine vage Vorstellung von der Wahrheit hat- nämlich dass der heutige Mensch in der Illusion lebt, er wisse, was er wolle, während er in Wirklichkeit nur das will , was er nach Ansicht der anderen wollen sollte. Um das einzusehen, muss man sich darüber klar werden, dass es nicht- wie die meisten meinen- verhältnismäßig einfach ist zu wissen, dass es sich dabei um eines der schwierigsten Probleme handelt, die der Mensch zu lösen hat. Es ist eine Aufgabe, der wir krampfhaft dadurch aus dem Wege zu gehen versuchen, dass wir fertig angebotene Ziele akzeptieren, als ob es unsere eigenen wären. Der heutige Mensch ist bereit , große Risiken auf sich zu nehmen beim Versuch , die Ziele zu erreichen, die angeblich "seine" Ziele sind, aber er hat eine tiefe Angst davor, das Risiko und die Verantwortung auf sich zu nehmen, sich seine eigenen Ziele zu setzen."

Seite 80:
"Weil wir uns von den älteren, unverhüllten Formen der Autorität freigemacht haben, merken wir nicht, dass wir einer neuen Art von Autorität zum Opfer gefallen sind. Wir sind zu Konformisten geworden, die in der Illusion leben, Individuen mit eigenem Willen zu sein. "

Der Leser möge sich fragen, wieweit die Erkenntnisse Erich Fromms für ihn selbst zutreffen und wo er begründeten "Widerspruch" anmeldet. Wir haben diese eine Literaturstelle unter vielen möglichen herausgesucht, weil sie uns bereits auf das Wesentliche der Gestaltung eines individuellen- und nicht eines den Wünschen und Vorstellungen anderer entsprechenden- Lebens hinweist. Gewiss, wir müssen uns alle in einem bestimmten Maße den Vorstellungen, Erwartungen und Wünschen unser Umgebung anpassen, sofern wir nicht aus dem bürgerlichen Leben herausfallen wollen. Die Frage aber ist, wo wir persönlich unsere Grenzen ziehen, wo wir noch Gestaltungsfreiheit haben, ohne dass wir uns beim Ausüben unserer relativen Freiheit essentielle Nachteile und schwerwiegende Folgen einhandeln: das fängt schon ganz elementar bei der Gestaltung des eigenen Gartens an. Wir reden hier aus eigener, unmittelbarer Erfahrung.

Nicht wenige unserer Reliefs können als Anregung für den Betrachter verstanden werden, über seine persönlichen Werte, Wünsche, Ziele ,.., ganz allgemein über sein Leben, nachzudenken und im freien Raum der Kunst sich selbst- ganz unbefangen- zu befragen, welches Leben er sich im Innersten tatsächlich wünscht. Vielleicht ist dies ein erster Schritt auch zu einer Realisierung seiner Wünsche?

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