Es gibt allerdings- erstaunlicherweise- auch Kunstdarbietungen, bei denen die "Leidensfähigkeit" - besser vielleicht die Erwartungen des Publikums übertroffen werden und die beabsichtigte Provokation gar nicht gut aufgenommen wird. So "revolutionär" möchte es nun doch nicht sein. Man fragt sich trotzdem, was sich der Veranstalter wohl dabei gedacht hat, seinem Publikum solch "harten Tobak" zuzumuten und wieso ihm eine derartige Fehleinschätzung seines Publikums unterlaufen ist. Vielleicht liegt die Reaktion der Rezipienten des Werkes nur an deren mangelnder Toleranz. Es bleibt also noch zu hoffen, dass unsere Gesellschaft eines Tages soweit in Toleranz geschult worden ist, auch derartige Werke auszuhalten, gar zu schätzen.
Als ein Beispiel, von vielen möglichen, führen wir eine Theateraufführung des Künstlers Jonathan Meese im Nationaltheater Mannheim im Juni 2013 auf. Die Einzelheiten hierzu haben wir dem Internet, u.a. FOCUS Online vom 27.06.2013, entnommen.
Der Künstler führte dort das Ein-Mann-Stück
"Generaltanz den Erzschiller" auf, als Teil der 17.Internationalen
Schillertage: Während der Uraufführung des Stückes "zeigte
der unrasierte Langhaarige unaufhörlich den Hitlergruß, beschmierte
eine Außerirdischen-Gummipuppe mit einem Hakenkreuz oder deutete mit dieser
Oral-Sex an.
Das komplett auf Nonsens beruhende Auftragswerk geriet zur Farce, da der in
einem schwarzen Trainingsanzug bekleidete Meese permanent das Ende und Kaputtsein
der Scheiß-Demokratie beschrie, das deutsche Grundgesetz beleidigte
und dabei Energy-Drinks in sich hineinschüttete.
Die Zuschauer beschimpfte er als Form-Fleisch-Menschenklone, die sich von Demokratie-Terroristen regieren ließen, die es mit Wahlenthaltung zu beseitigen gelte. Viele ältere Theaterbesucher verlor er mit der Bemerkung, die 68er-Bewegung habe nichts gebracht und sei nur Massenindividualismus und Rudelbumsen gewesen.
Seine Tiraden im irren Auf- und Abgehen wurden mit der ständigen Wiederholung von eingespielten Musiktiteln wie You der 80er-Jahre-Band Boytronic orchestriert. Unaufhörlich rief Meese die Diktatur der Kunst aus, eine Auseinandersetzung mit Friedrich Schiller außer der Bemerkung Schiller ist radikaler als die Polizei erlaubt gab es überhaupt nicht.
Dafür bezeichnete er in mantraartigen Gesängen in Verbindung mit alter Popmusik sowohl Adolf Hitler, Richard Wagner oder den Militarismus als cool. "
...
"Meese verzichtete in seiner Wort-Ekstase darauf, sich auszuziehen, öffentlich
zu urinieren oder seinen Darm zu entleeren, was ihm vom verbliebenen, unaufmerksamen
und sich miteinander unterhaltenden Publikum positiv angerechnet wurde. Am Ende
wurde er sogar von Theatermitarbeitern von der Bühne geklatscht."
Einen ernsthaften Interessenten hat Mannheimere Aufführung jedoch möglicherweise:
den Staatsanwalt. Von Interesse wird es sein, ob die das Verhaltens von Meese
durch die in Artikel 5 des Grundgesetzes verbürgte Kunstfreiheit gedeckt
wird. In ähnlichen uns bekannten Fällen wurde letztlich zu Gunsten
der Kunstfreiheit entschieden.
Das Beispiel zeigt, wie weit die Begriffe "Kunst" und "Künstler" heute ausgefüllt werden- und wie schwierig die Abgrenzung dieser Begriffe zu anderen- weniger positiv besetzten- Bezeichnungen ist. Und es zeigt, was heute einem Publikum vorgesetzt wird- durchaus nicht sinnlos, wie wir jedoch meinen- ist doch die "Kunst" auch eine Abbildung von gesellschaftlichen Verhältnissen: ein Umstand, der geradezu zu einer Interpretation einlädt...