Wolfgang Ullrich
Gesucht Kunst
Verlag Klaus Wagenbach Berlin
2007
ISBN 978-3-8031-2577-4
Seite 64
"Gute Arbeiten hingegen erschöpfen sich so wenig
wie früher in der Mimesis, sondern definieren neue Formate oder erschließen
Themen und Erfahrungen, die dann auch über das hinausreichen, was abgebildet
ist. Als hilfreich erweist sich, wenn der Künstler weiß, was er im
Unterschied zu Vertretern anderer Disziplinen kann. Statt sich an dem zu orientieren,
was andere Künstler machen, und dabei Gefahr zu laufen, nur den Ansprüchen
des herrschenden Kunstbegriffs zu unterliegen, sollte er lieber darüber
nachdenken, wie er Sujets, die auch ein Wissenschaftler, Dienstleister oder
Modedesigner verfolgen mag, auf seine Art und Weise in Szene setzen kann. Nur
dann ist die Freiheit, die ihm auferlegt ist, eine Chance.
Gegenüber den Rezipienten hingegen ist heutzutage ein Apell zu formulieren,
der konträr zu den Postulaten ist, die vor zweihundert Jahren erhoben wurden.
Statt die Kunst nur als Kunst- als etwas von innerer Vollkommenheit und Autonomie-
zu würdigen, geht es inzwischen darum, sie zuerst in dem wahrzunehmen, was sie
über eine Beschäftigung mit dem eigenen Kunst- Sein hinaus bietet. Kunstwerke
sollten nicht nur als Kunstwerke gelten dürfen; vielmehr sollte ihre Erschließungsleistung
– jener spezifische Blick des Künstlers – im Mittelpunkt stehen , egal ob es
sich dabei um ein formales Phänomen, ein soziologisches oder politisches Sujet
oder eine spezifische Stimmung handelt. Ein wesentliches Kriterium von Kunst
wäre es dann, ob sich ausgehend von einem Werk eine Diskussion entwickeln lässt,
in deren Verlauf es gar nicht mehr um die Frage nach dem Kunsthaften des Werkes
geht. Das tritt vielmehr nur indirekt, als Quelle von Gedanken oder als Garant
einer gewissen Konzentration, in Erscheinung. Dafür wird die „Unerschöpflichkeit“
der Kunst darin erfahrbar, dass ein Nachdenken über ein Werk kein schnelles
Ende findet und doch nicht vom Thema abkommt."