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"3. Die Bedeutung des Faktors "Selbstkongruenz"
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Es ist denkbar, dass die abstrakte Kunst durch das Fehlen unmittelbarer Interpretationshilfen dem Betrachter eine "tabula rasa" für das Wirken der innerpsychischen Inhalte vorgibt: Der Betrachter gestaltet dann- unbewusst- den Inhalt aktiver als in der figurativen Kunst. Erinnerung, Bezüge zum Selbst und zum eigenen Leben werden dann auf die frei interpretierbaren abstrakten Formen und Farben projiziert., so dass am Ende ein Selbstbezug hergestellt wird. Ein Beispiel aus der psychologischen Praxis ist der Rorschachtest, bei dem abstrakte Formen interpretiert werden sollen. Der Ausspruch "Perception is a mirror, not a fact" bekommt hier eine neue Anwendung. Wir sehen nur das, was wir schon kennen, wir sehen uns und unsere persönliche Erfahrung im Bild. Der oft zitierte Vergleich zwischen Kunst und Spiegel passt in diesem Fall zu den empirischen Ergebnissen. Das Kunstobjekt oder die Leinwand ist eine Projektionsfläche für unsere eigene persönliche Lebensgeschichte. Figurative Kunst scheint dem Betrachter mehr erkennbare Inhalte zu geben, als es bei abstrakter Kunst der Fall ist (77,4% vs. 8,3%).
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.. die Wirkung von abstrakter Kunst im Bereich "Selbstkongruenz" (ist) signifikant (...) niedriger als bei figurativer Kunst. Dennoch stellt "Selbstkongruenz" den wichtigsten Faktor bei beiden Kunstarten dar. Dieses Ergebnis ist umso erstaunlicher, als dass der Bereich "Selbst" oder "Selbstkongruenz" in bisherigen Untersuchungen zur Kunstpsychologie - ja in der Kunst an sich- ein Schattendasein führte. Die Ergebnisse dieser Untersuchung rücken diese Dimension der ästhetischen Wahrnehmung plötzlich an die erste Stelle. "

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"Die Bedeutung des Faktors "Selbstkongruenz"

Zusammenfassend gilt, dass die Psychologie nicht sagen kann, was ein "gutes" oder ein "schlechtes" Bild, was "gute" oder "schlechte" Kunst ist. Sie kann darauf hinweisen, dass ein intensiv wirkendes Bild Inhalte darstellen und Selbstbezug ermöglichen sollte. Ein gutes Bild ist aus psychologischer Sicht eins, welches intensiv wirkt. Und dies vermögen offenbar Bilder mit einer "guten Spiegelfunktion", also solche, die unser Selbst und unsere persönliche Geschichte anschaulich spiegeln. Wie dieser Spiegel durch den Künstler geschaffen wird, bleibt weiterhin das "Geheimnis" von Kunst."

 

 

Jens Rowold: Auf den Inhalt kommt es an, Herausgeber Walter Schurian, LIT- Verlag, 2001, ISBN 3-8258-5636-4

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