Wieland Schmied in Zusammenarbeit mit Jürgen Schilling: GegenwartEwigkeit, Spuren des Transzendenten in der Kunst unserer Zeit, Edition Cantz, 1990, ISBN 3-89322-179-4
Seite 22:
"Religion und Kunst- wie verhalten sie sich zueinander? Ist Kunst eine
Ersatzreligion, der Künstler eine Art Priester, wie man im 19.Jahrhundert
meinte? Ist Kunst eine Sprache der Religion? Ihr sinnlicher Ausdruck, ihre bildhafte
Ergänzung oder nur die Illustration ihrer Glaubensinhalte? Ist Kunst eine
Erscheinung- wenn auch gewiss keine Harmonie- parallel zur Religion, ihr ebenbürtig?
Oder ist Kunst nur Mittel zum Zweck und steht darum unter Vormundschaft der
Religion, wenn die Religion der eigentliche Zweck ist? Oder hat Kunst die Religion
in der modernen Welt abgelöst, sie überflüssig gemacht, ihr Erbe
angetreten?"
Seite 22:
"Am brauchbarsten erscheint mir vielleicht noch die Arbeitshypothese
von Günther Rombold, der von "Kunst als Kompensation von Religion"
spricht und meint, nur die Kunst könnte dem Menschen heute in seiner Suche
nach der verlorenen Einheit noch Orientierung geben. Rombold schreibt:"
Unsere These besagt, dass die Kunst der letzten beiden Jahrhunderte gerade in
ihren extremsten Äußerungen das Religionsdefizit , dass zugleich
ein Sinndefizit und Identitätsdefizit ist, zu kompensieren trachtet. Kunst
unternimmt den Versuch einer universellen Weltdeutung, eine Aufgabe, die bis
zum 18.Jahrhundert der Religion zugesprochen wurde."
"Wesentlicher als das Verständnis von Kunst als universelle Weltdeutung, umfassende Daseinsorientierung oder als Gedächtnis der Menschheit erscheint mir ihr Verständnis als Medium der Erfahrung. Kunst ist das Medium, Erfahrungen der verschiedensten Art zu machen, religiöse Erfahrungen, Erfahrungen über den Menschen, über seine Zeit, seine Welt, seinen Glauben oder seinen Nicht-Glauben, sein Verhältnis oder sein Nicht-Verhältnis zu Gott, und Kunst ist zugleich das Medium, diesen Erfahrungen Ausdruck zu geben, Ausdruck zu geben in einer autonomen, nur ihren eigenen Gesetzen folgenden Formensprache."
Seite 23:
"Dabei wird es sich zeigen, dass diese
Erfahrungen- und ich denke dabei besonders an Erfahrungen spirituellen Charakters-
einen um so originelleren, intensiveren, authentischeren Ausdruck finden werden,
je unabhängiger sie von Vorbildern bleiben, in umso größerer
Entfernung von vorgeprägten Denk- und Erfahrungsformensie sich vollziehen,...."
"Ihnen deshalb den Vorwurf der Privatheit oder der
Unverbindlichkeit machen zu wollen, scheint mir nicht nur ungerecht, sondern
auch unsinnig. Es ist der qualitative Rang, die formale Stringenz des Ausdrucks,
die einzig und allein über die Relevanz einer künstlerischen Formulierung
entscheidet."
Verena Kast: Was wirklich zählt, ist das gelebte Leben-
Die Kraft des Lebensrückblicks, Herder- Verlag, 2010, ISBN 978-3-451-6501-9
Seite 116:
" Unter Spiritualität kann man eine freiheitliche, offene spirituelle
Praxis verstehen- eine kontinuierliche Beziehung zwischen außen und innen,
bei der es um Erfahrungen geht, die uns emotional tief berühren, die uns
ganz versunken sein lassen in einer Erfahrung. Spiritualität kann sich
zeigen als Sehnsucht nach Erfahrungen von Einheit: Einheit mit sich selbst,
mit der Natur, mit der Umwelt, mit der Mitwelt. Sie zeigt sich im aktuellen
Leben, mit dem aktuellen Leib, den Freuden und Leiden, die damit verbunden sind.
In einer mystisch-sozialen Dimension der Spiritualität möchte diese
Einheitserfahrung mit Menschen geteilt werden."
Seite 117:
"Erfahrungen von Einheit können im
Laufe eines Lebens immer einmal erlebt werden. Diese müssen sich aber nicht
in der Ikonografie der großen Religionen darstellen, sondern können
sich der Ikonografie eines übergeordneten Ganzen bedienen. Das
Gefühl der Ganzheit und der Sinnhaftigkeit, oft ausgelöst durch ein
Gefühl der Ergriffenheit, kann auch erlebt werden in einem schöpferischen
Prozess, bei Erfahrungen in und mit der Natur, bei Betrachtung eines Kunstgegenstandes,
in der Liebe, bei einer Erfahrung von Schönheit, beim Zusammensein mit
Menschen, usw. So könnte man die Sehnsucht nach Einheitserfahrungen,
nach Sinnerfahrungen als Spiritualität bezeichnen und das Erleben davon
als gelebte Spiritualität. Dabei erscheint mir besonders wichtig zu sein,
dass sich Spiritualität im konkreten Lebensvollzug ereignet und die emotionale
Ergriffenheit das Wesentliche ist"