VERPASSTE GELEGENHEITEN
Es gibt für den Menschen nur ein wahres Unglück : sich etwas vorzuwerfen
haben (Jean de La Bruyere)
Im allgemeinen bereuen wir mehr das, was wir nicht getan haben, als das. was
wir getan haben.
Es ist besser, Genossenes zu bereuen, als zu bereuen, dass man nichts genossen hat (Giovanni Boccaccio)
Wir weisen in diesem Zusammenhang auf einen Essay "Gelegenheit, Zeit und Tugend" von Rudolf Wittkower hin, den wir in der Sammlung "Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance" (Dumont Verlag, 2002, ISBN 3-8321-7233-5) gefunden haben:
Das Thema "Gelegenheit" kann auch so aufgefasst werden, dass der Mensch "durch das Dazwischentreten der Zeit seine günstige Gelegenheit " verpasst" . Der rasche Lauf der Zeit hindert ihn, die (günstige) Gelegenheit am Schopfe zu packen."
Eine durchaus aktuelle Auffassung (2011) , wie wir meinen, für die Lebenssituation vieler, die nicht nur mit der Beschleunigung ihrer Arbeitssituation zurechtkommen müssen. DasThema im erwähnten Sinn ist auf einem Stich von Georges Reverdy im 16. Jahrhundert dargestellt worden:
Die
Zeit hindert den Menschen, die (günstige) Gelegenheit zu ergreifen.
Der
Mensch in der Mitte stehende Mensch wird von der Zeit festgehalten und von der
günstigen Gelegenheit weggebogen. Das in den Händen der Gelegenheit
gespannte Band weist wahrscheinlich auf eine Symbolisierung der günstigen
Gelegenheit durch eine der Parzen (Lachesis) hin.
In der vorstehend aufgeführten Literaturquelle wird auch auf eine andere Darstellung der "durch die Einmischung der Zeit verpassten Gelegenheit" verwiesen:
David le Marchand : Verpasste Gelegenheit , frühes 18.Jahrhundert,( London, Victoria ans Albert Museum)
Die Gelegenheit wird von der Zeit davongetragen. Die günstige Gelegenheit ist verpasst worden, sie ist vergangen - sie tötet sich selbst mit einem Speer. Unterhalb, zu Füßen der Zeit - dargestellt durch Chronos- liegen eine Frau und ein Löwe. Der Löwe wird als Symbol der Reue interpretiert. Frau und Löwe blicken zur sterbenden Gelegenheit empor -"voller Kummer und Trauer" und "verkörpern somit die Empfindung des reuigen Menschen."
Ein weiterer Hinweis wird in der zitierten Literaturquelle auf das Verhältnis zwischen Tugend und (günstiger) Gelegenheit im vorherrschenden Denken der Renaissance gegeben. Sie befinden sich dort im Gegensatz -"in unversöhnlicher Fehde". Ein Fresco aus der Schule Mantegnas (entstanden nicht vor 1490) stellt dies anschaulich dar:
Allegorie
der Gelegenheit (spätes 15. Jahrhundert)
Die Gelegenheit ist eben an einem jungen Mann vorübergeeilt, der sie zu ergreifen versuchte. Er wurde daran von einer älteren Frau gehindert, die auf einem quaderförmigen Sockel steht, einem Symbol der Standhaftigkeit. Diese Stabilität steht im Gegensatz zur ständig rollenden Kugel der Gelegenheit.
Der Leser möge daraus entnehmen, dass das Verhältnis von günstiger Gelegenheit, zur Verfügung stehender Zeit und "Tugend", ein durchaus vielschichtiges Thema ist. Welche "günstige" Gelegenheit sollte man überhaupt wahrnehmen?- und wenn sie "unmoralisch" ist , aber eigentlich keinem schadet ? Diese Gelegenheiten soll es immerhin auch geben -gerüchteweise. Zur moralischen Aufrüstung und Anregung - wie man auf solche Gelegenheiten reagieren sollte- des Lesers fügen wir deshalb noch einen Stich von Marc Antonio Raimond bei :
Die herkulische Tugend züchtigt die lasterhafte Fortuna (frühes 16. Jahrhundert)
Nachtrag im Jahr 2009:
PSYCHOLOGIE HEUTE. compact, 2009, Heft 22, Seite 92; Ursula Nuber: Vergiss das
Beste nicht: Das Leben endet!:
"Wie sieht ein Leben aus, an dessen Ende der Mensch möglichst
wenig zu bereuen hat ? Die Antwort darauf ist einfach, wie die psychologische
Forschung zeigt: Menschen bereuen in der Regel nicht so sehr, was sie getan
haben. Sie bereuen all das, was sie nicht getan haben. Nicht genutzte
Chancen, übersehene Möglichkeiten, Zögerlichkeit, Mutlosigkeit,
Sicherheitsdenken- all das scheint wenig förderlich zu sein für ein
Leben, das möglichst ohne Reue endet. "
Nachtrag im April 2012 :
«Ein gelassener Umgang mit Chancen, die
man im Laufe seines Lebens verpasst hat, spielt eine entscheidende Rolle für
die Lebenszufriedenheit im Alter», sagte Studienleiterin Stefanie Brassen
vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) am Donnerstag. .... Das
Team um Brassen präsentiert die Untersuchung im Fachjournal «Science».
( Dont look back in anger in der Fachzeitschrift Science erschienen
(DOI: 10.1126/science.1217516)).
...
Bei jungen Menschen kann das Hadern mit ausgelassenen Gelegenheiten dazu beitragen,
künftig bessere Entscheidungen zu treffen. Im Alter gibt es jedoch weniger
Chancen zur Veränderung - damit sinkt auch der Nutzen, über Verpasstes
nachzugrübeln. Viele gesunde ältere Menschen fokussierten sich ganz
aktiv auf Positives und blendeten Negatives aus, sagte die Neurowissenschaftlerin.
So übernehmen sie etwa weniger Verantwortung für frühere Entscheidungen
- und auch Fehlentscheidungen.
...
«Dinge, für die wir uns nicht verantwortlich fühlen, können
uns auch nicht so sehr ärgern, und wir können sie besser abhaken.»
...
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